Ehemaliger Chef des Bundesverfassungsgericht Papier: Die juristische Aufarbeitung des Regierungshandelns unter dem Eindruck von Corona hat erst begonnen

Quelle: Von Michael Panse from Erfurt, Germany, de:Michael Panse - https://www.flickr.com/photos/michael-panse-mdl/3476749837/, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7763646

BERLIN – Die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Grundrechtsbeschränkungen im Zuge der Pandemiebekämpfung hat begonnen, aber sie ist bei weitem noch nicht abgeschlossen brachte es der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in einem Interview mit der Zeitung DIE WELT auf den Punkt.

 

Es ist wie ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit. Hans-Jürgen Papier mißt die aktuellen Geschehnisse an den Maßstäben, die während seiner Präsidentschaft im Bundesverfassungsgericht noch galten und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis. An dieser Stelle sei erwähnt, daß das CDU-Bundestagsmitglied Stephan Harbarth, 2018 mit den Stimmen der Grünen ins Bundesverfassungsgericht gewählt wurde und dann dort alle überholte und 2020 dann dessen Präsident wurde.

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Wesen und Zweck der Grundrechte ist die Garantie von Freiheit

Papier beobachtet, daß diese Werteordnung unserer Verfassung schon vor dem Auftreten von Covid-19 einer sektorhaften und schleichenden Erosion ausgesetzt war.

Dreh- und Angelpunkt sind für den ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts hierbei die Rahmenordnung, die die Verfassung und die durch sie geschaffene Werteordnung mit Hilfe der Grund- und Menschenrechte vorgibt.

Zweck dieser Ordnung und der in den Artikeln 1-20 verfaßten Grundrechte ist – und das hebt Papier hervor – wiederum die Freiheitlichkeit und daß deren Einhaltung über die parlamentarische Demokratie gesichert wird.

Die Grundrechte sind als unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte des Einzelnen verbürgt. Sie können zwar eingeschränkt werden, aus Gründen des Gemeinwohls durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes. Aber es handelt sich nicht um eine einseitige Gewährung des Staates, die man mehr oder weniger beliebig entziehen und neu vergeben kann… Das sind Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, die jeder innehat und die für jeden gelten. 

Hierbei handelt es sich um eine Tatsache, die in der Zeit, in der er Vorsitzender des Bundesverfassungsgerichts war, noch eine Selbstverständlichkeit war. Heute jedoch macht man sich in manchen Kreisen bereits verdächtig, wenn man derartige Äußerungen tätigt. Er stellt aber fest, daß die betriebene Politik und die gesellschaftlichen Akteure in den letzten Jahren von diesem Wertekoordinatensystem entfernt hätten. Geradezu schockiert hält er zu den Entwicklungen, die mit Covid-19 begründet werden, fest:

„Aber seit einem Jahr müssen wir infolge der Pandemie Abweichungen von dieser Werteordnung feststellen, die sich niemand zuvor hat vorstellen können. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Geltung der Grund- und Menschenrechte, als auch im Hinblick auf die Strukturen der parlamentarischen Demokratie.“

Und eine Mahnung gibt der Verfassungsrechtler der Öffentlichkeit noch mit auf den Weg:

„In der Bewusstseinslage der politischen Akteure und Teilen der Bevölkerung scheint gelegentlich in Vergessenheit zu geraten, dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind. Sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte, sie sind keine Untertanen!“

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Situativer Ausfall des Rechtsstaats

Bereits seit einigen Jahren erkennt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier, einen situativen Ausfall von Teilen des Rechtsstaats. Papier bleibt hierbei aber nicht etwa passiv, sondern veröffentlichte diese Kritik in einem Buch mit dem Titel

Die Warnung. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an

In diesem thematisiert und kritisiert dieser die fortschreitende Aushöhlung des Rechtsstaats unter / durch Angela Merkels Herrschaft.

„Ich habe den Eindruck, dass Wert und Bedeutung der Freiheitsrechte in weiten Teilen der Bevölkerung, aber auch in der Politik unterschätzt werden – heute mehr denn je“,

Derartige Eindrücke bestätigen Papier offenbar in seiner Auffassung, daß zentrale Akteure in zu großen Teilen der aktuell an der Macht befindlichen Kreise in Politik und Gesellschaft sich dieses Wertekoordinatensystem des Grundgesetzes nicht mehr zur Richtschnur ihres Handelns nehmen.

Besonders schockiert hat ihn hierbei offenbar die offen zu Tage getragene Haltung, daß Spitzenpolitiker den Bürgern „Grundrechte zurückgeben“ könnten?!

Auch darin drücken sich Fehlvorstellungen über den Rang und den Vorrang der Grundrechte aus.

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Ausfall eins: Privilegien für Geimpfte?

Als konkretes Beispiel führt Papier außerdem die Diskussion an, daß Geimpfte „Grundrechte“ zurückgegeben werden könnten. Aber auch diese Vorstellung ist nicht mit dem Koordinatensystem des Grundgesetzes vereinbar:

Bei Geimpften zum Beispiel geht es um die Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen, sofern von den geimpften Personen, das unterstelle ich jetzt mal als gegeben, keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht. Dann sind gegenüber diesem Personenkreis Freiheitsbeschränkungen nicht mehr verhältnismäßig und dürfen meines Erachtens nicht mehr aufrechterhalten werden.

Nun wird gesagt, es gehe doch um Solidarität. Ich kann aber keine Solidarität verlangen gegen geltendes Verfassungsrecht, zumal eine solche Solidarität den nicht geimpften Personen überhaupt nichts nutzen würde.

Im diametralen Gegensatz zu diesen Vorgaben verkündete Angela Merkel ihre Haltung:

„Wenn wir genügend Menschen ein Impfangebot gemacht haben werden und sich einige partout nicht impfen lassen wollen, wird man überlegen müssen, ob es in bestimmten Bereichen Öffnungen und Zugänge nur für Geimpfte geben soll. Aber da sind wir noch nicht.“

Außerdem müsse erst „eindeutig“ geklärt sein, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend seien.“

Schon in den Begriffen

„‘Rückgabe‘ der Grundrechte durch Lockerungen“

oder

„Privilegien“

die jemand nach einer Impfung haben könnte, kommen nach Überzeugung Papiers

„Fehlvorstellungen über den Rang und den Vorrang der Grundrechte“

zum Ausdruck:

„Das sind Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, die jeder innehat und die für jeden gelten.“

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Ausfall zwei: Lockdown

Als noch weiteres Beispiel für den Ausfall eines gesamten Sektors führt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts den Lockdown an. Dies beginne schon damit, daß dieser von einem im Grundgesetz nicht vorgesehenen Gremium „beschlossen“ wurde:

„Was mich auch jetzt wieder stört, ist, dass die unmittelbar demokratisch legitimierte Volksvertretung, also der Deutsche Bundestag, diese Entscheidungen weder selbst trifft noch hinreichend an ihnen beteiligt ist. Gegen Schaltkonferenzen der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin ist sicherlich nichts einzuwenden, wenn und soweit sie der gegenseitigen Beratung und Koordinierung dienen. Aber es handelt sich um ein Gremium, das in der Verfassung nicht vorgesehen ist und über keinerlei Kompetenzen verfügt.“

Das Ausmaß alleine dieser Einschränkungen macht den ehemaligen obersten Hüter der Verfassung und der Freiheit der Bürger offenbar fassungslos:

„Derart intensive, flächendeckende und nicht nur kurzzeitige Freiheitsbeschränkungen, die allein von der zweiten Gewalt beschlossen werden“, wären „für mich als Staatsrechtler bisher undenkbar gewesen“.

Letztendlich wird man dieses im Grundgesetz nicht vorgesehene Gremium wohl als sozialistisch-kommunistisches „Rätekonstrukt“ bezeichnen müssen, das innerhalb des eigentlich parlamentarischen Systems einfach implementiert wurde und seither vom den Spitzen aus Bund und Ländern einfach praktiziert wird.

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Ausfall drei: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Als weiteres Beispiel führt Papier den Ausfall des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an, doch das zu lösen traut er noch den unteren Instanzen zu:

Ich will und kann hier nicht beurteilen, welche der in diesem Pandemiejahr getroffenen Freiheitsbeschränkungen unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten problematisch sind. Das ist die Aufgabe der Gerichte, die über die einzelnen Schutzmaßnahmen zu befinden haben.

Offenkundig hofft er auf entsprechende Klagen:

„Unser Rechtsstaat – also praktisch gesehen die Gerichte bis hin zu den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder – ist nach meiner Einschätzung durchaus bereit und in der Lage, solche massiven Freiheitsbeschränkungen, wie wir sie in Zeiten der Pandemie erleben, auf längere Sicht und in anderen Politikfeldern, bei denen es jedenfalls nicht unmittelbar um die Bedrohung von Leib und Leben geht, zu verhindern oder abzuwehren.“

Nach diesen Sätzen möchte man eigentlich gar nichts mehr weiter schreiben. Man möchte sie nur stehen und nachhallen lassen.

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Verantwortlich für diese Ausfälle und für die Entkernung der Grundrechte: Angela Merkel

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert diese grundsätzliche Diagnose sogar noch auf einige konkrete Sektoren, in denen der dieser Ausfall der Grundrechte und des Rechtsstaats als besonders offenkundig wahrnimmt, denn dieses Wertekoordinatensystem, des Grundgesetzes habe sich bei „vielen

  1. Politikern,
  2. Journalisten und leider auch
  3. Bürgern

selbst noch nicht so ganz durchgesetzt“ erklärt er.

Doch nicht einmal an dieser Stelle macht Papier Halt, was schon ungewöhnlich ist. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und macht sogar eine Verantwortliche erkennbar:

„Ich habe neulich eine Formulierung gehört, die etwa lautete: Wenn die epidemische Lage so bleibt, wie sie jetzt ist, dann kann es keine neuen Freiheiten geben.“

Und der Journalist unterbricht ihn

– „Eine Formulierung der Kanzlerin …“,

Umso schwerer wiegen Papiers folgende Worte, mit denen er Kanzlerin Merkel eine Haltung vorwirft, die nicht im Einklang mit dem Grundgesetz steht:

„Von wem auch immer: Darin kommt die irrige Vorstellung zum Ausdruck, dass Freiheiten den Menschen gewissermaßen vom Staat gewährt werden, wenn und solange es mit den Zielen der Politik vereinbar ist. Nein, es ist umgekehrt! Die Grundrechte sind als unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte des Einzelnen verbürgt. Sie können zwar eingeschränkt werden, aus Gründen des Gemeinwohls durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes. Aber es handelt sich nicht um eine einseitige Gewährung des Staates, die man mehr oder weniger beliebig entziehen und neu vergeben kann.“