Pünktlich vor Wahlen: Landgericht Berlin ändert seine Rechtsprechung zu Löschungen durch Internetkonzerne um 180Grad

Quelle: Von hvd69 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49020566

BERLIN – Welchen Einfluß haben Big-Tech und/oder Bundesregierung auf Gerichte? Tagesaktuelle Berichterstattung durch Journalisten auf einmal nicht mehr „dringlich“?

 

Merkwürdige Vorgänge um eine für Löschungen durch Internetkonzerne zuständige Kammer des Landgerichts in Berlin. Die Kammer änderte nach Besetzung  durch neue Richter auf einmal ihre bis dahin praktizierte Rechtsprechung ins Gegenteil mit der Wirkung, daß Personen, die gegen Löschungen von Inhalten um Rechtsschutz bitten mit ihrem Begehren im Eilverfahren scheitern und auf das Jahre dauernde Hauptsacheverfahren verwiesen werden.

Welches Gericht für welche Fälle zuständig ist, ist im Gesetz geregelt. So ist örtlich das Gericht zuständig, in dessen Ort sich der Fall abspielt und sachlich ist das Gericht zuständig, in dessen Kompetenz der Fall fällt. Innerhalb des Gerichts bekommen dann die zuständigen Kammern nach dem Geschäftsverteilungsplan mit den eingehenden Fällen zugeteilt.

Damit ist relativ klar, welche Kammer z.B. die Fälle auf den Tisch bekommt, die Klagen gegen Facebook, Google etc. z.B. wegen Rechtsverletzungen auf den Tisch bekommen. Seit 2016 können sich diese internationalen Konzerne auch nicht mehr darauf hinausreden, daß sie doch vom Ausland ihren Sitz hätten. So entschied der BGH im Urteil „Lilli Marlen“ am 21.04.2016 unter dem Aktenzeichen I ZR 43/14:

  1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, die auch unter Geltung des § 545Abs. 2 ZPO in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Februar 2014 – I ZR 49/13GRUR 2014, 559Rn. 11 = WRP 2014, 709 – Tarzan), ergibt sich aus § 32 ZPO.
  2. a) Nach § 32ZPO ist für Klagen aus unerlaubten Handlungen das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung begangen ist. Zu den unerlaubten Handlungen im Sinne von § 32ZPO zählen Urheberrechtsverletzungen. Die Vorschrift regelt mit der örtlichen Zuständigkeit mittelbar auch die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte. Eine unerlaubte Handlung ist im Sinne von § 32 ZPO sowohl am Handlungsort als auch am Erfolgsort begangen, so dass eine Zuständigkeit wahlweise dort gegeben ist, wo die Verletzungshandlung begangen oder in das Rechtsgut eingegriffen worden ist. Zur Begründung der Zuständigkeit reicht die schlüssige Behauptung von Tatsachen aus, auf deren Grundlage sich eine im Gerichtsbezirk begangene unerlaubte Handlung ergibt. § 32 ZPO erfasst auch Unterlassungsansprüche (vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2010 – VI ZR 23/09BGHZ 184, 313 7 f.; Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 111/10GRUR 2011, 558 Rn. 6 f. = WRP 2011, 898; BGH, GRUR 2014, 559 Rn. 11 – Tarzan, mwN).

 

Art.19 Abs. IV GG: Wer Recht hat, muß auch etwas davon haben können

Gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der sich ihm anschließenden Lehre besteht ein Recht auf „effektiven“ Rechtsschutz und nicht nur auf das Recht einem Richter den Fall auf den Tisch legen zu dürfen:

Artikel 19 Abs. IV selbst ist jedoch selbst zunächst recht eng gefaßt:

„(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.“

Artikel 19 Abs. IV garantiert seinem Wortlaut nach demnach eigentlich nur, daß es ein Gericht geben muß, dem man sein Problem auf den Tisch legen darf. Da ein solches „Recht“ jedoch keinen Sinn macht, wenn der Betroffene nichts mehr von einem für ihn positiven Richterspruch hat, hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtswegegarantie auf einen Anspruch auf „effektiven Rechtsschutz„, also auf ein Recht auf „wirkungsvollen Rechtsschutz“ ausgeweitet:

„Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) lässt sich ein Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten ableiten (vgl. BVerfGE 82, 126 <155>; 93, 99 <107>; 107, 395 <401, 408>). Die daraus folgende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht, sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf allerdings einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung… Darin findet die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zugleich ihre Grenze. Der Rechtsweg darf danach nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264 <268>; 77, 275 <284> m.w.N.).“

Damit hat das Bundesverfassungsgericht den ihm unterstellten Gerichten aufgegeben Recht so zu sprechen, daß der, der Recht bekommt, dieses Recht auch nutzen können muß. Ein Richterspruch, von dem der „Gewinner“ nichts mehr hat, ist damit ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 19 IV GG des Betroffenen.

Dieses Grundrecht entfaltet aber eigentlich auch Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren. Schon die Behörde hätte demnach im Verfahren so zu handeln, daß das Grundrecht auf „effektiven Rechtsschutz“ nicht beeinträchtigt wird. Jedes Gericht ist damit eigentlich verpflichtet, dieses Grundrecht in jedem Verfahren zu beachten. Eigentlich!

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Der Fall „Reitschuster“

Genau eine derartige Beeinträchtigung könnte im „Fall Reitschuster“ nun eingetreten sein. Die für Google, Facebook und co oftmals zuständige Kammer des Landgerichts Berlin wurde durch neue Richter besetzt und änderte hiernach – schwupp – ihre bis dahin praktizierte Rechtsprechung in Eilverfahren um 180 Grad.

Das kann durchaus vorkommen, z.B. in Fällen, in denen ein Umschwung in der öffentlichen Meinung gegeben ist, dem dann Neubewertungen durch Gerichte folgen können.

Im „Fall Reitschuster“ hatte sich der Journalist Boris Reitschuster dann durch ein Interview mit Prof. Sucharit Bhakdi in folgender, am 20.3.2020 neu eingeführten Google-Richtlinie verheddert gehabt (Ausschnitt):

Auf YouTube sind keine Inhalte erlaubt, die medizinische Fehlinformationen zu COVID-19 verbreiten, die im Widerspruch zu medizinischen Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder lokaler Gesundheitsbehörden stehen.

Im Detail ging es um Folgendes:

Damals hatte die gleiche Kammer des Berliner Landgerichts, allerdings in anderer Besetzung, eine einstweilige Verfügung erlassen gegen die Löschung meines Videos mit Prof. Sucharit Bhakdi. Damals hatte die Kammer Dringlichkeit gesehen und bestätigt, dass es das Interview durch das Recht auf freie Meinungsfreiheit gedeckt sieht und dass es kritisch war.

Google hat gegen diese Entscheidung der Berliner Richter Widerspruch eingelegt. In einer anderen Besetzung neigte sich die Kammer heute der Entscheidung zu, dass keine Dringlichkeit geboten sei. Sollte der Richterspruch so fallen, hätte das schwerwiegende Folgen: Damit würde nicht nur die Löschung der „Verwarnung“ durch Youtube wieder rückgängig gemacht (mehrere Verwarnungen führen zu längeren Sperren und schließlich auch zur Sperrung eines Kanals). Es wäre auch ein Signal, dass man in Berlin keine Möglichkeit hat, vor Gericht zeitnah gegen ungerechtfertigte Sperrungen von Youtube vorzugehen. 

Überträgt man diese Konstellation in die Gegebenheiten, wie sie vor dem Herrschen der Internetkonzerne allgemein üblich waren, dann kann man die heutigen Internetkonzerne durchaus mit einem früheren, fiktiven Monopolisten zur Papierherstellung gleichsetzen. So wie es heute also nur einen einzigen Internetkonzern namens Google gibt, oder praktisch nur einen einzigen Konzern im Bereich der Sozialen Netzwerke, namens „Facebook“, hätte es vor deren Zeit auch nur einen einigen Konzern geben können, der Papier herstellt.

Niemand wäre aber damals auf die Idee gekommen, einem Monopolisten der Papierherstellung das Recht zu überlassen, zu entscheiden nur den Journalisten oder den Verlagen Papier zu verkaufen, die darauf die Inhalte schreiben, die der Inhaber des Konzerns zu schreiben erlaubt!

Niemand wäre außerdem damals auf die Idee gekommen, einem Monopolisten der Papierherstellung das Recht zu überlassen, durch einen Autoren oder Journalisten bereits beschriebenes Papier im Nachhinein mitsamt dem Text wieder einzuziehen, mit dem Argument „Der Autor hat gegen die Nutzungsbedingungen des Papierherstellers“ verstoßen!

Damals hätte es – zu Recht – einen Aufschrei der Empörung gegeben und die Politik und die Verfassungsorgane wären tätig geworden. Heute aber schweigen sie.

Festhaltenswert ist in diesem Fall daher schon einmal Dreierlei:

  • Erstens kam dieser Umschwung der zuständgen Kammer in Berlin ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 2021
  • Zweitens erfolge dieser Umschwung nach einer Neubesetzung der Kammer mit anderen Richtern
  • Drittens stellt sich die ernsthafte Frage: welchen Wert Artikel 19 Abs. IV GG noch hat, wenn sich die zuständige Kammer weigert, daß ein von einer Löschung bei z.B. Facebook etc. Betroffener  den Rechtsweg des Eilverfahrens nutzen möchte, ihm dies durch das Gericht aber verwehrt wird, und er auf das Hauptsacheverfahren verwiesen wird, das aber Jahre dauert?

Weitere Details können dem folgenden Dialog entnommen werden:

Ob, und in welchem Ausmaß, ein derartiges Verhalten das Vetrauen der Bürger in die Unabhängigkeit der Justiz stärkt oder nicht, möge jeder Bürger selbst entscheiden.

Ob, und in welchem Ausmaß, ein derartiges Verhalten „Verschwörungstheorien“ unter den Bürgern zu nähren geeignet ist, möge jeder Bürger ebenfalls selbst entscheiden, wie die Frage, ob der Grund für „Verschwörungstheorien“ wirklich in der „Dummheit“ der Bürger zu suchen ist, oder in derartigen, mindestens tolpatschig wirkenden Handlungen durch Vetreter des Staats.