LUXEMBURG – Bis zum 30.4. hatte der EuGH in ständiger Rechtsprechung als Recht erkannt, daß in der ePrivacy-Richtlinie ein Recht auf Online-Anonymität verankert sei. Seit einer neuen Entscheidung vom 30.4. sieht der selbe EuGH das nun ganz anders, wodurch der Online-Anonymität de facto ein Ende gesetzt werden dürfte, indem der EuGH den Behörden einen umfassenden Zugriff auf die mit einer IP-Adresse verbundene Identität des Internetnutzers und damit letztendlich auch auf den Inhalt seiner Kommunikation gewährt wird.
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Man stelle sich vor, der Staat erhebt den Anspruch darauf, daß jeder, der zur Türe hinaus in die Öffentlichkeit geht, vom Staat gezwungen wird, dies beim Staat bekannt zu geben und in eine Liste einzutragen, denn er könnte ja in der Öffentlichkeit eine Straftat begehen! Was für den öffentlichen Raum (derzeit noch) als absurd angesehen wird, hält der Europäische Gerichtshof (EuGH) für richtig und änderte am 30.4. seine eigene Rechtsprechung in diese Richtung.
Als Grund für diese Änderung führt der EuGH an, daß andernfalls das Rechtssystem inkonsistent wäre, weil es im Internet bisher nur eine Identifizierungspflicht bei schweren Straftaten gebe und nicht bei normalen Straftaten.
Mit der selben formalistischen Argumentationsweise könnten die Richter aber in Zukunft dann auch eine Registrierungspflicht für Personen einführen, wenn diese ihr Haus verlassen. Denn wieso sollten andere Regeln für jemanden gelten, der mit Hilfe seiner IP-Adresse den virtuellen öffentlichen Raum des Internet betrifft und sich hierbei einer „Vorratsdatenspeicherung“ unterziehen muss, als für jemanden, der durch das Öffnen seiner Haustüre den realen öffentlichen Raum betrifft und sich hierbei keiner „Speicherung“ unterziehen muss? In beiden Fällen könnte der Betreffende ja Straftaten begehen, also sowohl im virtuellen, als auch im realen Raum!
Nach einem Jahrzehnt des Hin- und Her, in dem sich die europäischen Regierungen bewusst dafür entschieden haben, die zahlreichen früheren Urteile des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung nicht zu respektieren und umzusetzen, haben die Innenminister in ganz Europa damit ihren Kampf gegen den EuGH gewonnen.
Mit dem jüngsten Urteil räumt der EuGH aber auch ein, dass er seine Rechtsprechung irgendwann ändern wird, wenn seine Urteile durch die Nationalstaaten nicht angewendet werden und aus den Regierungen der Nationalstaaten immer neue Initiativen kommen, um die Rechtsposition des EuGH asu dem Weg zu räumen.
Dies stellt eine besorgniserregende Schwächung der Autorität des Gerichtshofs gegenüber des Drucks aus den Mitgliedstaaten dar und belegt, daß der EuGH einem solchen Druck die Bürger vor ihren eigenen Regierungen zu schützen, nicht standhält.
Bei alldem stellt sich erneut die Frage auf welche Legitmimität sich der EuGH beruft. Nur Staaten haben das Recht, Recht zu sprechen. So regelt das von einer demokratisch legitimierten Bundesregierung im § 12 des GVG:
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In einem aktuellen Urteil ändert der Europäische Gerichtshof (EuGH) seine eigene Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung
Das Bundesverfassungsgericht hat als Recht erkennt, daß die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nur dann erlaubt ist, wenn diese der Bekämpfung schwerer Kriminalität diente. Dazu zählte das BVerfG beispielsweise die Verbreitung von Kinderpornografie. Am Dienstag, den 30.4. erließ der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil, daß diese Eingriffsschwelle der „schweren“ Kriminalität nicht mehr gelte und daß die anlaßlose Speicherung von IP-Adressen von nun an zur Bekämpfung jeglicher Kriminalität möglich ist (Urt. v. 30.04.2024, Az. C-470/21).
Damit werden nun Befürchtungen wahr, die bereits bei Einführung der Vorratsdatenspeicherung geäußert worden waren und die mit dem Hinweis auf die Seite gewischt wurden, daß man ja nichts dagegen haben darf, Kinderprornographie zu bekämpfen. Nun drängt sich die Befürchtung auf, daß die angebliche Bekämpfung von Kinderprornographie nur ein Mittel zum Zweck gewesen sein könnte, den ersten Schritt in Richtung Massenüberwachung zu tätigen!
Obwohl das Bundesverfassungsgericht und auch der EuGH eine anlaßlose Vorratdsatenspeicherung ablehnten wurden Mitgliedsstaaten weiterhin aktiv diese Vorlage zu hintertreiben. Dazu gehört auch Deutschland. Dem Innenministerium unterstellte Behörden, wie das BKA, lechzen schon seit 2007 um diese Möglichkeit. Nach einem durch die britische Bürgerrechtsbewegung Statewatch veröffentlichten Dokument (Ad-hoc Working Party on Data Retention, Establishment and adoption of its Terms of Reference, Brüssel, 17.09.2020, RAT: 10772/20), wurde unter der Leitung Deutschlands im EU-Rat eine neue Arbeitsgruppe zur Vorratsdatenspeicherung eingerichtet werden, die Vorschläge für eine neue europäische Vorratsdatenspeicherung erarbeiten sollte.
Ob vor diesem Hintergrund Vorschläge erarbeitet wurden und ob die nun erkennbare Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH eine Umsetzung eines solchen Vorschlags sein könnte, ist eine noch unbeantwortete Frage.
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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Grundgesetz definiert in den Artikeln 1 bis 20 die eigentlichen, so genannten „Grundrechte“. Bei diesen handelt es sich um Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. In seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht vielfach festgestellt, daß aus dem Artikel 1.1. in Verbindung mit dem Artikel 2.1. des Grundgesetzes auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines der Abwehrrechte des Bürgers gegen einen übergriffigen Staat ist. Und dazu gehört auch, daß der Bürger sich sicher sein kann, daß der Staat grundsätzlich keine Bewegungsprofile und/oder Persönlichkeitsprofile erstellt, was mit Hilfe von z.B. gescannten Nummernschildern von KFZ oder einen Tracking von Mobilfunkdaten technisch problemlos möglich wäre.
Das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung
Am 20.3.2010 urteilte das Bundeverfassungsgericht:
Unter RdNr. 256 führt das BVerfG aus, dass unter „mittelbaren“ Daten verstanden wird, dass lediglich der Inhaber einer IP-Adresse abgefragt wird:
Diese Abfrage ist gemäß des BVerfG möglich, da mit der Identifikation eines Inhabers einer IP-Adresse ja ausgeschlossen ist, daß z.B. Bewegungsprofile von ihm erstellt werden.
Das Internet darf anonym benutzt werden
Nach § 13 Abs. 6 Satz 1 des am 13. Mai 2024 durch das Digitale Dienste Gesetz ersetzten TMG hat ein Diensteanbieter die Nutzung von Telemedien anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen.
Eine Ausnahme ist gemäß BGH nur auf der Grundlage des Strafrechts gegeben: Anonymität ist im Netz dann nicht mehr gegeben, wenn ein Handeln strafrechtliche Relevanz hat, z.B. bei übler Nachrede, Verleumdung, Beleidigung etc. Betroffene konnten daher keinen Auskunftsanspruch bei einem Zivilgericht geltend machen, sondern mussten immer Strafanzeige gegen Unbekannt stellen, um Namen zu erhalten.
Doch deutsche Regierungen haben bereits vielfach Versuche gestartet, derartige Daten regelmäßig erheben und speichern zu können. Eine Speicherung dieser Daten ist die Voraussetzung dafür, diese nicht nur für die Zwecke der Strafverfolgung, sondern auch für die Zwecke des Marketing oder zum Zweck der politischen Beeinflussung nutzen zu können. So wurde zunächst versucht mit Hilfe von Nummernschild-Scans diese Restriktion zu durchbrechen und dann mit Hilfe der Erhebung von Positionsdaten bei Mobilfunk-Kunden. Bisher wurde jedoch jeder derartige Versuch durch das Bundesverfassungsgericht vehement zurückgewiesen:
Grundsätzliches Verbot der Erstellung von Bewegungsprofilen durch Nummernschild-Scans
Am 11. März 2008 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren – 1 BvR 2074/05 -; – 1 BvR 1254/07 – klar und eindeutig festgehalten:
Der Begründung kann man hierzu ergänzen entnehmen:
Grundsätzliches Verbot der Erstellung von Bewegungsprofilen von Mobiltelefonen
Trotz dieses eindeutigen Verbots versuchte die Politik weiter, derartige Ausspähungen durchzusetzen. Einen weiteren Angriff auf dieses Verbot startete die Bayerische Staatsregierung.
Die Söder-Regierung packte eine derartige Möglichkeit der Überwachung einfach in ein neues Bayerisches Verfassungsschutzgesetz und versuchte damit die Möglichkeit einer quasi schrankenlosen Überwachung nicht nur zu den Geheimdiensten zu verschieben, sondern darüber hinaus auch noch hinter schwammigen, also absichtlich allgemein gehaltenen Begriffen zu verstecken.
Doch das abgerufene Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beanstandete am 26. April 2022 – 1 BvR 1619/17 – wesentliche Passagen dieses neuen Gesetzes, da zu viele Maßnahmen darin zu vage definiert wurden, beispielswiese bei der Wohnraumüberwachung, da der Intimbereich der Wohnung nicht deutlich genug geschützt worden war. Darüber hinaus könnten aus dem selben Grund auch Bewegungsprofile durch eine Ortung von Handys erstellt. Das aber sei ein schwerer Grundrechtseingriff.
Zu der von der Bayerischen Staatsregierung als Gesetzentwurf angelegten Ortung von Mobiltelefonen führte das Bundesverfassungsgericht aus:
In Folge dieses Urteils wird der Bayerische Verfassungsschutz in Zukunft also genau begründen müssen, warum und wie sie dieser Mobiltelefone ortet. Hinzu kommt, daß eine unabhängige Stelle dieser Behörden hierbei kontrollieren muß.
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Der EuGH ändert seine Rechtsprechung
Während der EuGH im Jahr 2020 zuletzt feststellte, daß die Speicherung von IP-Adressen einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte darstellt und daß der Zugriff auf sie zusammen mit der Identität des Internetnutzers nur zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität oder des Schutzes der nationalen Sicherheit erfolgen darf, das stimmt nicht mehr.
Der EuGH hat am 30.4.2024 seine Argumentation jedoch umgekehrt: Er ist nun der Auffassung, daß die Speicherung von IP-Adressen standardmäßig keinen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte mehr darstellt und dass ein solcher Zugriff nur in bestimmten Fällen einen schwerwiegenden Eingriff darstellt, der durch entsprechende Schutzmaßnahmen geschützt werden muss.
In Folge zeigen wir diese merkwürdige Entwicklung im Detail auf:
Die grundsätzliche Rechtsprechung des EuGH und die einzige Ausnahme dazu
Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen herausgearbeitet, daß ein gesetzlicher Zwang zu einer Vorratsadtenspeicherung grundsätzlich unzulässig ist.
Abgeleitet hatte er dies aus Art. 7, 8 und 11 der Charta der Grundrechte der europäischen Union in Verbindung mit Art. 15 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation – „ePrivacy-Richtlinie“). Bei einem gesetzlichen Zwang zu einer Vorratsdatenspeicherung seien die dort verankerten Erfordernisse der Notwendigkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit nicht gegeben. Besätigt wurde dies in den Urteilen
- vom 8. April 2014 (EuGH, Urt. v. 8.4.2014, C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights Ireland Ldt/Minister for Communications, Marine and Naturale Recourses u.a.)
- vom 21. Dezember 2016 (EuGH, Urteil v. 21.12.2016, C-203/15 u. C-698/15, Tele2 Sverige)
In diesen hob der EuGH hervor, daß eine Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich unzulässig ist. Insbesondere darf sie
- nicht uneingeschränkt und pauschal erfolgen und
- nicht alle Teilnehmer und
- nicht alle elektronischen Kommunikationsmittel und
- nicht sämtliche Kommunikationsdaten
einbeziehen. Außerdem machte es der EuGH zur Auflage, daß in den Ausnahmefällen, in denen eine Vorratsdatenspeicherung dann doch zulässig ist, diese
- auf einen bestimmten Zeitraum,
- auf ein bestimmtes geographisches Gebiet
- auf einen definierten Personenkreis
begrenzt werden muß. Dies hat zur Folge, daß das Instrument der gesetzlich vorgeschriebenen Vorratsdatenspeicherung praktisch nur zur Bekämpfung schwerer Kriminalität eingesetzt werden durfte.
Die Ausweitung der Ausnahme von der grundsätzlichen Rechtsprechung des EuGH
Damit hatte der EuGH also den Grundsatz festgelegt und eine einzige Ausnahme definiert. Doch diese einzige Ausnahme wurde kurz darauf bereits erweitert: Am 6. Oktober 2020 verkündete der EuGH dann zwei Entscheidungen, und am 20. September 2022 eine weitere Entscheidung, die sich mit weiteren Ausnahmen befasste:
- In der ersten Entscheidung (EuGH, Urt. v. 6.10.2020, C-623/17 Privacy International) ging es um die in Großbritannien geltende Rechtslage, daß ein britisches Gesetz ein allgemeines und unterschiedsloses Sammeln von Kommunikationsdaten und das Aushändigen dieser Daten an einen Nachrichtendienst ermöglichte.
- In der zweiten Entscheidung ging es um einen Streitfall aus Frankreich und Belgien (EuGH, Urt. v. 6.10.2020, C-511/18, C-512/18 u. C-520/18, La Quadrature du Net u.a.) die eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Kommunikationsdaten anprangerten.
- In der dritten Entscheidung ging es um einen Streitfall aus Frankreich und Belgien (EuGH, Urt. v. 20.9.2022, C‑793/19 und C‑794/19, SpaceNet u.a.) die erneut eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Kommunikationsdaten anprangerte.
Sowohl für das Sammeln, als auch für das Speichern wurde in diesen Entscheidungen noch einmal bestätigt, daß eine allgemein verpflichtende Regelung zur Vorratsdatenspeicherung durch TK-Anbieter gegen Art. 23 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verstößt. Den Urteilen ist erneut entnehmbar, daß eine anlasslose Vorratsdatensammlung und Vorratsdatenspeicherung mit den grundlegenden Menschenrechten auf Privatsphäre, Datenschutz und Meinungsfreiheit unvereinbar ist und deswegen auch unzulässig ist.
Der EuGH machte in diesem Urteil jedoch auch eine weitere Hintertüre auf. Demnach kann es von diesem grundsätzlichen Verbot auch Ausnahmen geben. Das sei dann der Fall, wenn die Existenz des Staates auf dem Spiel stehe, wenn es also um eine ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit geht, wenn also eine tatsächliche, gegenwärtige Gefahr oder wenn eine vorhersehbare Gefahr gegeben ist, dann dürfe ein Mitgliedsstaat auch eine anlaßlose Vorratsdatenspeicherung gesetzlich vorschreiben.
Die bereits zuvor definierte Ausnahme, zur Bekämpfung schwerer Straftaten und zur Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit wurden bestätigt. Bestätigt wurden auch die Auflagen unter denen dies durchgeführt werden dürfte, wie z.B.:
- die Beschränkung der Speicherung auf das absolut erforderliche Zeitmaß
- ergreifen wirksamer Schutzmaßnahmen
- Überprüfbarkeit durch ein Gericht oder eine unabhängige Behörde.
Hinzu kommt nun, daß bei konkretem Terrorverdacht nun auch auch Echtzeit-Daten der Person nach vorheriger Prüfung durch ein Gericht oder eine unabhängige Behörde ausgewertet werden dürften.
Die in solchen Fällen gespeicherten dürfen dann auch die IP-Adressen der Telekommunikationsnutzer umfassen. Dem dritten Urteil ist zu entnehmen, daß alles eigentlich ganz klar sei:
Wenn aber alles ganz klar ist, warum hat der EuGH dann 2024 seine Rechtsprechung geändert?
Die Änderung der Rechtsprechung des EuGH: die Ausnahme wird zur Regel
Anlaß des jüngsten Urteils des EuGH war ein Verfahren zur Bekämpfung von illegalem Filesharing von Musik- und Filmdateien in Frankreich. Um illegale Filesharer identifizieren zu können griff die damals dafür zuständige französische Behörde „Hadopi“ auf die Daten der französischen Vorratsdatenspeicherung zu. Grundlage hierfür war ein Dekret aus de Jahr 2010, in dem die französische Regierung Hadopi das Recht gab, bei Telekommunikationsanbietern die Identitätsdaten von Inhabern einer IP-Adressen abzufragen, um mit diesen in Kontakt kommen zu können.
Und weil IP-Adresse ja nicht mit anderen Daten kombiniert werde, stelle deren anlaßlose Speicherung angeblich auch keinen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen dar. Während also eine anlaßlose Vorratsdatenspeicherung gemäß BVerfG nur bei schweren Straftaten in Betracht kommt, kommt eine anlaßlose Vorratsdatenspeicherung gemäß EuGH immer in Betracht, wenn eine Straftat im Raum stehen könnte.
Als einzige Grenze zieht der EuGH eine das absolut Notwendige zeitliche Begrenzung, ohne aber anzugeben ob er dabei in Wochen oder Monaten denkt.
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Die neue Rechtsprechung des EuGH
Der EuGH hat am 30.4.2024 nun doch den automatisierten Massenzugriff auf IP-Adressen genehmigt, die mit der Identität und dem Inhalt einer Kommunikation verbunden sind. Dieser Zugriff kann für geringfügige Zwecke und ohne vorherige Überprüfung durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde erfolgen.
Dieses Urteil vom 30. April 2024 stellt eine große Kehrtwende in der EU-Rechtsprechung dar.
Worum geht es?
In einen Rechtsstreit mit den Verbänden
- La Quadrature du Net,
- Fédération des fournisseurs d’accès à Internet associatifs,
- Franciliens.net und
- French Data Network
einerseits und dem
- Premier ministre (Premierminister, Frankreich), bzw. dem
- Ministre de la Culture (Minister für Kultur, Frankreich)
anderseits war die die Rechtmäßigkeit des französischen Gesetzes
- Décret no 2010‑236, du 5 mars 2010, relatif au traitement automatisé de données à caractère personnel autorisé par l’article L. 331‑29 du code de la propriété intellectuelle dénommé „Système de gestion des mesures pour la protection des œuvres sur Internet“
- Dekret Nr. 2010-236 vom 5. März 2010 über die nach Art. L. 331-29 des Gesetzbuchs über das geistige Eigentum gestattete automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten mit der Bezeichnung „System zur Verwaltung von Maßnahmen zum Schutz von Werken im Internet“
und seiner Nachfolgeregelung, dem JORF Nr. 109 vom 10. Mai 2017, Text Nr. 176, strittig, wie sie die von der Aufsichtsbehörde
„Haute Autorité pour la diffusion des oeuvres et la protection des droits sur l’Internet (Hadopi)“
Anwendung fand. Die Aufsichtsbehörde Hadopi gibt es aktuell nicht mehr. Aktuell wird in Frankreich die audiovisuelle und digitale Kommunikation durch die – angeblich – unabhängige Aufsichtsbehörde
„Autorité de régulation de la communication audiovisuelle et numérique (ARCOM)“
geregelt. Diese war aber am 1. Januar 2022 aus einer Fusion der Conseil supérieur de l’audiovisuel (CSA) mit der der Haute Autorité pour la diffusion des oeuvres et la protection des droits sur l’Internet (Hadopi) entstanden.
Am 30. April 2024 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), daß die von der Hadopi praktizierte massiven Überwachung des Internet auf (angebliche) Verstöße gegen das Urheberrecht rechtmäßig sei.
Das Interessante: das ist nur möglich, weil der EUGH hierbei seine eigene Rechtsprechung geändert hat!
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Der EuGH ändert einfach mal so seine Rechtsprechung zur Massenüberwachung
Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung, von der Position, daß ein Zugriff auf IP-Adressen regelmäßig ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte darstellt, zur Position, daß ein Zugriff auf IP-Adressen regelmäßig keinen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte darstellt, auf den Kopf gestellt.
Durch diesen Schwenk gilt ein Zugriff auf IP-Adressen nicht mehr standardmäßig als schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte.
Damit läßt das „Gericht“ in letzter Konsequenz auch die Möglichkeit einer Massenüberwachung des Internets zu.
Für einen Normalbürger ist es wohl unerträglich Urteile des EuGH zu lesen. Viel zu oft wirken dessen Urteile als ob sie eigens so geschrieben werden, daß man sie nicht liest.
Und selbst wenn man sie zu lesen versucht, wird man von ewig langen und ineinander verschachtelten Bandwurmsätzen abgestoßen:
2021: unterschiedloser Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung ist ein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte
Noch im November 2021 stellte die Direktion Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des EUGH fest, dass eine unterschiedlose Vorratsdatenspeicherung ein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte darstellt:
2024: unterschiedloser Zugriff auf Vorratsdatenspeicherung ist kein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte
All das wird durch den EuGH nun auf den Kopf gestellt:
Das Gericht fordert die Behörde Hadopi also auf, sich weiterzuentwickeln.
Was das Gericht hier also macht ist, die Bevölkerung grundsätzlich schutzlos zu stellen. Wo vorher ein Verbot stand, auf Daten zuzugreifen, weil dies ein
war, sagt nun der EuGH, daß
Als Grund wird angeführt, daß ein „schwerwiegender Eingriff“ nur dann vorliegt, wenn der Eingriff gegen die „Werte“ der Union verstößt und das sind:
Nur wenn also diese „Werte“ verletzt sind, dann sei der Zugriff auf die IP-Adresse und damit die Identität des Internetnutzers im Zusammenhang mit urheberrechtlich geschützten Werken ein schwerwiegender Eingriff in das Recht auf Privatsphäre darstellen kann, z. B. wenn das Material Rückschlüsse auf politische Aspekte zulässt, auf Meinungen, sexuelle Orientierung usw.
Das neue Urteil ist eine Katastrophe für den Datenschutz
Der EuGH fährt damit also den Schutz der Bevölkerung zurück!
Das eigentliche Drama an dieser Änderung der Rechtsprechung kann man jedoch nur mit folgenden Zusatzüberlegungen ermessen:
- Wenn der EuGH 2024 argumentiert, daß dem Schutz der Privatsphäre schon dadurch Genüge getan wäre, indem man „nur“ die IP-Adressen erfasst und den bürgerlichen Namen der Person, die Inhaber dieser Adresse ist, dann war das aber auch schon vor dem 30.4.2024 der Fall. Wenn das aber auch schon vor dem 30.4.2024 der Fall war, warum hat der EuGH in früheren Urteilen die IP-Adresse und den Privatnahmen dahinter noch als „Privat“ geschützt gehabt und einen Zugriff darauf verboten gehabt?
- Hinzu kommt, daß man wissen muß, daß diese IP-Adressen in der Regel dynamisch vergeben werden, sich also regelmäßig ändern. Wer also zwei IP-Adressen der selben Person abfragt hat damit bereits einen Ausschnitt eines Bewegungsprofils der dahinter stehenden Person. Mit steigender Anzahl der Abfragen kann dieses Profil dann entsprechend verfeinert werden.
Ein Verfahren für den Wiederholungsfall
Der EuGH ist außerdem der Auffassung, daß Hadopi grundsätzlich in großem Umfang und automatisiert auf die zivilen Identitäten von Menschen zugreifen kann. Erst im Wiederholungsfall darf der Zugriff auf IP-Adressen nicht „vollständig automatisiert“ erfolgen.
Mit anderen Worten: Die abgestufte Reaktion (benannt nach dem von Hadopi angewandten Verfahren, das darin besteht, zunächst mehrere Warnungen zu versenden, bevor rechtliche Schritte eingeleitet werden, wenn der Internetnutzer seine Verbindung nicht „sichert“) muss ihre Vorgehensweise ändern.
Der französische Gesetzgeber muss einen komplizierten Mechanismus erfinden, um eine Art unabhängige externe Kontrolle des Zugangs zur Identität des Internetnutzers durch Hadopi zu ermöglichen.
Während für Hadopi derzeit keine Pflicht zur externen Kontrolle besteht, muss die Behörde in Zukunft eine solche Kontrolle über sich ergehen lassen, wenn sie in diesen „atypischen“ Fällen oder bei „Wiederholungsdelikten“ auf die Identität des Internetnutzers zugreifen will.
Damit werden letztendlich Personen außerhalb von Hadopi werden dafür verantwortlich gemacht werden, auf die Schaltfläche „Validierung“ zu klicken, während Hadopi bis dahin die Autorisierung selbst erteilte.