OVG Lüneburg: Ausgangsbeschränkungen wohl nicht verhältnismäßig und daher rechstwidrig

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LÜNEBURG – Wohl erstmals im Eilverfahren hat das für Niedersachsen zuständige OVG in Lüneburg eine Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausgangssperre durchgeführt und diese staatliche Maßnahme scheitern lassen.

 

Ausgangsbeschränkung der Region Hannover voraussichtlich rechtswidrig

Das ist neu. Bisher haben die obersten Verwaltungsgerichte in der Regel argumentiert, daß der Staat in Gefahrensituationen eine weiten Spielraum hat, Entscheidungen zu treffen.

En Jahr nach Beginn der Pandemie scheinen die Gerichte zu beginnen, dem Staat und seinen Vertretern diesen Spielraum nicht  mehr zuzugestehen.

So hat der 13. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts – und das ist ziemlich neu neu – mit Eilbeschluss am 6.4. die Beschwerde der Region Hannover gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 2. April 2021 (Az.: 15 B 2883/21) zurückgewiesen.

Damit wird die erstinstanzliche Entscheidung des VG-Hannover, daß die in der Allgemeinverfügung der Region Hannover vom 31. März 2021 angeordnete Ausgangsbeschränkung voraussichtlich rechtswidrig ist, bestätigt (Az.: 13 ME 166/21).

Streitgegenständlich war hierbei die in der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 31. März 2021 angeordnete nächtliche Ausgangsbeschränkung gemäß §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 und 6 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Die in diesen Normen enthaltenen tatbestandlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, so die Richter nun.

 

Der Grund: Die Ausgangsbeschränkung verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Die Ausgangsbeschränkung sei in ihrer hier allein zu beurteilenden konkreten Ausgestaltung keine notwendige Schutzmaßnahme, da sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, so die Richter.

Um zu diesem Ergebnis zu kommen, führten die Richter eine schulbuchmäßige Verhältnismäßigkeitsprüfung der strittigen Ausgangsbeschränkung durch:

b) Für die mit der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 31. März 2021 angeordnete Ausgangsbeschränkung sind diese tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. In ihrer hier allein zu beurteilenden konkreten Ausgestaltung ist die Ausgangsbeschränkung keine notwendige Schutzmaßnahme. Sie verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und stellt damit keine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG dar.

Legitimes Ziel:

DAs abgestrebte Ziel sei gemäß Gericht legitim:

(1) Zweifelsohne verfolgt die Antragsgegnerin die legitimen Ziele (vgl. Senatsbeschl. v. 6.11.2020 – 13 MN 411/20 -, juris Rn. 43), im Interesse des Schutzes von Leben und Gesundheit eines und einer jeden die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Verbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und

Diese Zielrichtung wahrt die besonderen Anforderungen des § 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG (vgl. Senatsbeschl. v. 23.12.2020 – 13 MN 506/20 -, juris Rn. 61).

 

Geeignetheit des Mittels Ausgangssperre zur Erreichung des Ziels

Bereits bei der Frage der Geeignetheit des Mittels zur Erfüllung der zuvor definierten Zwecke hakt das Gericht erstmals ein:

20 (2) Zur Erreichung dieser legitimen Ziele ist die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung in begrenztem Umfang geeignet. Es bedarf dazu keiner näheren Ausführungen zur der wenig ergiebigen Studienlage zur Effektivität von Ausgangssperren (vgl. dazu etwa FAZ v. 3.4.2021, S. 6).

Allerdings verwundert es, dass die – insbesondere im süddeutschen Raum – über einen längeren Zeitraum verhängten Ausgangsbeschränkungen keiner Evaluation unterzogen worden sind.

Auch vermag der Senat die Argumentation des Antragsgegners nicht nachzuvollziehen, insbesondere nächtliche Ausgangssperren seien in besonderer Weise geeignet, Kontakte zu beschränken. Da zu nächtlicher Stunde die nicht bereits durch die niedersächsischen Corona-Bestimmungen ohnehin geschlossenen Einrichtungen ebenfalls geschlossen sind, ist der Anreiz zum Verlassen des privaten Wohnbereichs deutlich geringer als tagsüber, die Anzahl der zu verhindernden Kontakte sinkt mithin in gleicher Weise.

Obwohl die Regierung ein Jahr Zeit hatte, hatte sie es bisher unterlassen, die Wirkungen der Maßnahme „Ausgangssperre“ wissenschaftlich zu überprüfen. Daher führt das Gericht eine Eigeneinschätzung der Wirkungen dieser Maßnahme durch:

Wirkung 1: Haushalt alleine verlassen

21 (a) Die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung bewirkt zunächst, dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe den eigenen Haushalt nicht verlassen und sich daher auch nicht allein oder mit weiteren, ihrem Haushalt angehörenden Personen in der Öffentlichkeit aufhalten dürfen. Diese Wirkung ist als solche für Erreichung der legitimen Ziele irrelevant. Denn der Aufenthalt im eigenen Haushalt und der Aufenthalt im Freien ohne Kontakt zu anderen als haushaltsangehörigen Personen ist mit keinem relevanten Infektionsrisiko verbunden.

Wirkung 2: Haushalt verlassen, um anderen Haushalt zu besuchen

22 (b) Die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung bewirkt darüber hinaus, dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe sich nicht aus dem eigenen Haushalt heraus- und in einen fremden Haushalt hineinbegeben dürfen.

Sie bewirkt damit eine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen, wie sie sich im Allgemeinen aus § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ergeben.

Mit Blick auf diese Verschärfung kann eine Eignung angenommen werden, da angesichts der hohen Infektiosität und der Übertragungswege Beschränkungen von Zusammenkünften und Ansammlungen mehrerer Personen – vor allem in geschlossenen Räumen – geeignet sein können, die Verbreitung von SARS-CoV-2 zu verhindern (vgl. Senatsbeschl. v. 18.11.2020 – 13 MN 448/20 -, juris Rn. 81; v. 11.6.2020 – 13 MN 192/20 -, juris Rn. 52).

Diese Eignung wird aber dadurch herabgesetzt, dass nach der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung Aufenthalte in fremden Haushalten – im Rahmen der Kontaktbeschränkungen nach § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung – auch in der Zeit zwischen 22 Uhr und 5 Uhr zulässig bleiben, wenn diese Aufenthalte im Zeitraum zwischen 5.01 Uhr und 21.59 Uhr begonnen worden sind.

Für solche Aufenthalte bewirkt die Ausgangsbeschränkung von vorneherein keine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen nach § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung.

Hinzu kommt, dass ein triftiger Grund für eine Ausnahme von der Ausgangsbeschränkung stets dann vorliegen dürfte, wenn ein im Zeitraum zwischen 5.01 Uhr und 21.59 Uhr begonnener Aufenthalt in einem anderen Haushalt in dem Zeitraum zwischen 22 Uhr und 5 Uhr beendet wird, um den eigenen Haushalt aufzusuchen.

Denn nachvollziehbare Gründe für einen Zwang, sich in dem fremden Haushalt ggf. gegen den Willen des Haushaltsvorstands weiter aufhalten oder gar an andere Orte als in den eigenen Haushalt begeben zu müssen, sind für den Senat nicht vorstellbar.

Wirkung 3: Haushalt verlassen, um in der Öffentlichkeit keine Dritten zu besuchen

23 (c) Die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung bewirkt schließlich, dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe auch in der Öffentlichkeit gar keine Personen treffen dürfen.

Auch insoweit werden die Kontaktbeschränkungen, wie sie sich im Allgemeinen aus § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ergeben, noch einmal verschärft und Kontakte zu Dritten in der Öffentlichkeit vollständig untersagt.

Mit Blick auf diese Verschärfung kann auch insoweit eine Eignung angenommen werden.

Das Ergebnis, daß diese Maßnahme nicht völlig ungeeignet ist, genügt dem Gericht jedoch an dieser Stelle offenbar:

24 Mag die Wirkung der vom Antragsgegner verhängten nächtlichen Ausgangssperre mithin auch gering und durch eine Vorverlagerung des Kontaktgeschehens deutlich begrenzt sein, völlig ungeeignet ist sie bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung nicht.

 

Erforderlichkeitsprüfung

Das OVG läßt die Maßnahme dann jedoch am Prüfschritt 3 scheitern:

25 (3) Die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung ist aber nicht erforderlich.

26 (a) Die mit der Ausgangsbeschränkung verbundene Untersagung, dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe den eigenen Haushalt nicht verlassen und sich daher auch nicht allein oder mit weiteren, ihrem Haushalt angehörenden Personen in der Öffentlichkeit aufhalten dürfen, ist zur Kontaktreduzierung und zur Infektionsvermeidung ersichtlich nicht erforderlich.

Etwaige Zufallskontakte zu haushaltsfremden Personen bei Aufenthalten in der Öffentlichkeit sind angesichts deren Singularität und des damit allenfalls verbundenen sehr geringen Infektionsrisikos zu vernachlässigen (vgl. hierzu auch das vom RKI entwickelte Intensitätsstufenkonzept und die Toolbox zum Stufenkonzept, veröffentlicht unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Downloads/Stufenplan.pdf?__blob=publicationFile, Stand: 19.3.2021, die sich nicht mit Aufenthalten als solchen, sondern nur mit Zusammenkünften im Freien befassen).

Gesetzgeber hat vor Ausgangsbeschränkungen eine zusätzliche Gefährdungsprognose gesetzt.

27 (b) Die mit der angeordneten Ausgangsbeschränkung verbundenen Untersagungen, dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe sich nicht aus dem eigenen Haushalt heraus- und in einen fremden Haushalt hineinbegeben dürfen und dass die von ihr betroffenen Personen in der Zeit von 22 Uhr bis 5 Uhr beim Nichtvorliegen triftiger Gründe in der Öffentlichkeit gar keine haushaltsfremden Personen treffen dürfen, mögen hingegen unter dem Aspekt der Verschärfung der allgemeinen Kontaktbeschränkungen nach § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung grundsätzlich als erforderlich angesehen werden dürfen.

28 Zu berücksichtigen ist aber, dass der Gesetzgeber mit den dargestellten (siehe oben 3.a.) besonderen Anforderungen des § 28a Abs. 2 Satz 1 IfSG ausweislich der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 19/24334, S. 73) die grundsätzliche Möglichkeit zur Anordnung von Ausgangsbeschränkungen in Hinblick auf ihre erhebliche Eingriffsintensität in Individualgrundrechte materiell eingegrenzt hat.

Es handelt sich um eine besondere Betonung des Gebots der Erforderlichkeit der Maßnahme (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 4.3.2021 – 3 B 26/21 -, juris Rn. 47 m.w.N.).

Zur Beurteilung der Frage, ob ohne die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit im Sinne des § 28a Abs. 2 Satz 1 IfSG erheblich gefährdet wäre, ist von der diese Maßnahme anordnenden Behörde eine auf die jeweilige Pandemiesituation abstellende Gefährdungsprognose zu erstellen, der eine ex-ante Betrachtung zugrunde liegt (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 12.1.2021 – 20 NE 20.2933 -, juris Rn. 42 vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 5.2.2021 – 1 S 321/21 -, juris Rn. 32 ff.).

Die in § 28a Abs. 2 IfSG genannten Maßnahmen stellen mithin eine „ultima ratio“ dar, so dass diese nur dann in Betracht zu ziehen sind, wenn Maßnahmen nach § 28a Abs. 1 IfSG voraussichtlich nicht mehr greifen.

Die von der Stadt Hannover ausgefertigte Gefährdungsprognose genügt diesen Anforderungen nicht

29 Die hier von der Antragsgegnerin erstellte Gefährdungsprognose trägt die Annahme, dass ohne die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit im Sinne des § 28a Abs. 2 Satz 1 IfSG erheblich gefährdet wäre, nicht.

30 Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Hochinzidenzkommunen nach § 18a Abs. 3 Nr. 1 der Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 27. März 2021 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 der Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 12. Februar 2021 ohnehin verschärfte Kontaktbeschränkungen gelten.

Die Antragsgegnerin hat nicht ansatzweise nachvollziehbar aufgezeigt, dass und in welchem Umfang sie bisher Bemühungen unternommen hat, die behauptete unzureichende Einhaltung der Kontaktbeschränkungen durch staatliche Kontrolle und staatliches Eingreifen zu verbessern, und dass auch gesteigerte Bemühungen von vorneherein erfolglos bleiben werden.

Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin von vornherein zu solchen Bemühungen nicht in der Lage wäre, bestehen für den Senat unter Berücksichtigung verschiedener aktueller Verlautbarungen zur Durchsetzung der Kontaktbeschränkungen aber auch der Ausgangsbeschränkungen nicht (vgl. etwa https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Pistorius-kuendigt-rigorose-Kontrollen-zu-Ostern-an,pistorius896.html, Stand: 31.3.2021, und https://www.haz.de/A-Stadt/Aus-der-Stadt/Hannovers-Polizeipraesident-Kluwe-ruft-Buergerinnen-und-Buerger-zur-Einhaltung-der-Corona-Regeln-auf, Stand: 1.4.2021).

31 Der Beschwerdebegründung der Antragsgegnerin lässt sich auch nicht annäherungsweise entnehmen, in welchem Umfang die von ihr angeführten regelwidrigen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfinden.

Nicht nachprüfbare Behauptungen reichen zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus.

Insbesondere ist es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären.

Nach mehr als einem Jahr Dauer des Pandemiegeschehens besteht die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege.

Der Erlass einschneidender Maßnahmen lediglich auf Verdacht lässt sich in diesem fortgeschrittenen Stadium der Pandemie jedenfalls nicht mehr rechtfertigen.

32 Soweit die Antragsgegnerin auf das Ziel der Unterbindung spätabendlicher Treffen junger Menschen an beliebten Treffpunkten in der Öffentlichkeit hinweist, drängt sich der Erlass von Betretensverboten hinsichtlich dieser Örtlichkeiten als milderes Mittel geradezu auf.

Des Erlasses einer Ausgangssperre bedarf es im Hinblick auf die Erkennbarkeit dieser Treffpunkte für Polizei und Ordnungskräfte ersichtlich nicht. Diese Maßnahme ist in § 18 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgesehen und auch von Hochinzidenzkommunen im Sinne des § 18 Abs. 4 der Verordnung nach allgemeinen Grundsätzen als milderes Mittel zu berücksichtigen. Überdies ordnet § 18 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung die Beachtung des Grundsatzes nochmals ausdrücklich an.

Damit scheitert die mangelnde Verhältnismäßigkeit bereits an der dritten Prüfstufe!

33 (4) Die mangelnde Erforderlichkeit lässt die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung zwangsläufig als nicht angemessen erscheinen.

34 Die Ausgangsbeschränkung bewirkt einen ganz erheblichen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit (vgl. zum Nichtvorliegen eines Eingriffs in das Freizügigkeitsrecht nach Art. 11 GG: Senatsbeschl. v. 29.10.2020 – 13 MN 396/20 -, juris Rn. 8; v. 15.10.2020 – 13 MN 371/20 -, juris Rn. 69). Sie hat für die von ihr betroffenen Personen zwar keine freiheitsentziehende Wirkung, die den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG auslösen würde. Die mit ihr verbundene freiheitsbeschränkende Wirkung ist aber ganz erheblich, denn den betroffenen Personen wird für einen mehrstündigen Zeitraum an jedem Tag das Verlassen der eigenen Wohnung ohne triftigen Grund untersagt. Diese Untersagung kann letztlich auch im Wege des Verwaltungsvollzugs zwangsweise durchgesetzt werden, ungeachtet dessen, dass dies tatsächlich allenfalls punktuell und nicht flächendeckend geschehen könnte.

35 Dieser Eingriff ist unter Berücksichtigung der nur begrenzten Eignung und der mangelnden Erforderlichkeit der streitgegenständlichen Ausgangsbeschränkung nicht angemessen und deshalb nicht gerechtfertigt.

36 Die während der Corona-Pandemie von den zuständigen Gesundheitsbehörden verfolgten legitimen Ziele werden ganz maßgeblich bereits durch die Kontaktbeschränkungen in § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung erreicht (vgl. hierzu zuletzt Senatsbeschl. v. 19.3.2021 – 13 MN 132/21 -, juris Rn. 47 ff.). Danach sind auch bei Aufenthalten in der Öffentlichkeit Zusammenkünfte einer Person nur mit den Personen ihres Haushalts und grundsätzlich (vgl. zu Ausnahmen: § 2 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Sätze 2 ff. der Niedersächsischen Corona-Verordnung) mit höchstens zwei Personen eines anderen Haushalts (§ 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) oder in Hochinzidenzkommunen mit höchstens einer Person eines anderen Haushalts (§ 18a Abs. 3 Nr. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) zulässig. Eine signifikante Verbesserung der Zielerreichung durch die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung ist angesichts der aufgezeigten Eignungs- und Erforderlichkeitsdefizite im hier zu beurteilenden Fall kaum zu erwarten.

37 Die Ausgangsbeschränkung anzuordnen, um etwaige Defizite bei der Befolgung und nötigenfalls staatlichen Durchsetzung bestehender anderer Schutzmaßnahmen, insbesondere der Kontaktbeschränkungen nach § 2 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung, auszugleichen, ist jedenfalls solange unangemessen, wie von den zur Durchsetzung berufenen Behörden nicht alles Mögliche und Zumutbare unternommen wurde, um die Befolgung anderer Schutzmaßnahmen sicherzustellen.

Der Senat hat in zahlreichen Normenkontrolleilverfahren während der Corona-Pandemie darauf hingewiesen, dass neben fortdauernden und vor weiteren Beschränkungen für alle Einwohner Niedersachsens zuvörderst auch Maßnahmen, die ein noch aktiveres Handeln staatlicher Stellen bei der Pandemiebekämpfung erfordern, in den Blick zu nehmen und zu forcieren sind (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 24.3.2021 – 13 MN 145/21 -, juris Rn. 65 ff.).

Dies gilt auch hier.

Bevor dies nicht geschehen ist oder bevor nicht feststeht, dass solche Maßnahmen nicht erfolgversprechend ergriffen oder verbessert werden können, erscheint es nicht angemessen, alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen einer Ausgangsbeschränkung zu unterwerfen, nur weil einzelne Personen und Personengruppen die geltenden allgemeinen Kontaktbeschränkungen nicht freiwillig befolgen oder nicht staatlicherseits alles Mögliche und Zumutbare unternommen wurde, um gegenüber diesen Personen und Personengruppen die Einhaltung der allgemeinen Kontaktbeschränkungen durchzusetzen, zumal auch die Ausgangsbeschränkung der freiwilligen Befolgung oder nötigenfalls der staatlichen Durchsetzung bedürfte.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Antragsgegnerin alleine nicht in der Lage ist, die erforderlichen aktiven Bekämpfungsmaßnahmen in die Wege zu leiten.

Bei der Frage der Angemessenheit einer Maßnahme sind aber die gesamten Möglichkeiten staatlichen Handelns in den Blick zu nehmen und der getroffenen Maßnahme gegenüberzustellen.