Österreich: COVID-19-Verordnungen waren teilweise verfassungswidrig

Quelle: Von Haeferl - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 at, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35280081

WIEN – Der Verfassungsgerichtshof Österreichs hat zwei Verordnungen der Regierung zur Pandemie als verfassungswidrig erkannt. Der Webseite des Verfassungsgerichtshof Österreichs ist zu entnehmen:

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat am 14. Juli nach zusätzlich angesetzten Beratungen weitere Entscheidungen über Fälle getroffen, die sich gegen Gesetze bzw. Verordnungen im Rahmen der COVID-19-Maßnahmen richten. Die Entscheidungen wurden heute veröffentlicht. Anträge und Beschwerden betreffend COVID-19 treffen seit Ende März laufend am VfGH ein; zwischen dem Einlangen und der Erledigung liegen bisher im Durchschnitt etwa zweieinhalb Monate. Von den rund 70 Fällen, die bis zum Beginn der Beratungen im Juni eingelangt waren, sind nun 19 erledigt.Die wichtigsten Ergebnisse sind:

  • Es ist verfassungskonform, dass das COVID-19-Maßnahmengesetz – anders als das Epidemiegesetz 1950 – keine Entschädigungen für Betriebe vorsieht, die als Folge eines Betretungsverbots geschlossen wurden.
  • Die gesetzliche Grundlage für Betretungsverbote in Bezug auf Betriebsstätten, Arbeitsorte und sonstige bestimmte Orte ist ebenso verfassungskonform.
  • Das Betretungsverbot für Geschäfte mit einem Kundenbereich von mehr als 400 mwar gesetzwidrig.
  • Teilweise gesetzwidrig war auch die Verordnung über das Betretungsverbot für öffentliche Orte.

Einige angefochtene Bestimmungen waren zum Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH bereits außer Kraft. In Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung stellte der VfGH fest, dass das rechtliche Interesse eines Antragstellers, eine verbindliche Entscheidung über die Gesetzmäßigkeit von Bestimmungen zu erwirken, über den relativ kurzen Zeitraum hinausreichen kann, in dem die Bestimmungen in Kraft waren.

Differenzierung zwischen Bau- und Gartenmärkten und anderen großen Handelsbetrieben in der COVID-19-Maßnahmenverordnung verstößt gegen das Gesetz

Nach § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz kann der zuständige Bundesminister durch Verordnung (auch) das Betreten von Betriebsstätten oder von bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist.

Gestützt auf § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz wurde mit Verordnung des Gesundheitsministers BGBl. II 96/2020 unter anderem das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels untersagt (§ 1). Dieses Betretungsverbot bedeutet im Ergebnis, dass die betroffenen Betriebsstätten geschlossen werden mussten. Ausgenommen von diesem Verbot waren zunächst lediglich sogenannte systemrelevante Betriebe wie öffentliche Apotheken, der Lebensmittelhandel oder Tankstellen (§ 2). Mit 14. April 2020 wurden weitere Betriebsstätten des Handels ausgenommen, so etwa Bau- und Gartenmärkte. Sonstige Geschäfte durften aber nur betreten werden, wenn der Kundenbereich im Inneren 400 m2 nicht übersteigt (§ 2 Abs. 4 idF BGBl. II 151/2020). Mit 30. April 2020 trat diese Regelung außer Kraft.

Mehrere Handelsunternehmen, darunter ein Grazer Unternehmen, das an 49 Standorten in Österreich tätig ist und vor allem mit Schuhen handelt, hatten beantragt, diese Beschränkung aufzuheben.

In Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Individualanträgen stellte der VfGH fest, dass der zugrunde liegende (Individual-)Antrag zulässig ist, obwohl die angefochtenen Bestimmungen zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits außer Kraft waren. Das rechtliche Interesse des Antragstellers, eine verbindliche Entscheidung über die Gesetzmäßigkeit dieser Bestimmungen zu erwirken, reicht nämlich über den relativ kurzen Zeitraum hinaus, in dem die angefochtenen Bestimmungen in Kraft gestanden sind.

Der VfGH hat aus dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes für Gesetze keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Verordnungsermächtigung des § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz.

Wörtlich führt der VfGH aus:

„Aus dem Regelungszusammenhang insbesondere mit § 2 COVID‑19-Maßnah­men­gesetz geht die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzgebers hervor, durch Betretungsverbote für Betriebsstätten die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen, die damit verbunden sind, wenn Menschen die Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen aufsuchen. Damit gibt das Gesetz den Zweck der Betretungsverbote konkret vor. Weiters ordnet das Gesetz an, dass der Verordnungsgeber diese Betretungsverbote im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme nach Art und Ausmaß differenziert auszugestalten hat, je nachdem, inwieweit er es in einer Gesamtabwägung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 für erforderlich hält, das Betreten von Betriebsstätten oder nur von bestimmten Betriebsstätten zu untersagen, oder deren Betreten unter bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu stellen. Damit überträgt der Gesetzgeber dem BMSGPK [Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz] einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen hat.“

Hingegen befindet der VfGH Teile des § 2 Abs. 4 (insbesondere die Voraussetzung „wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt“) der Verordnung des Gesundheitsministers, wie sie von 14. April 2020 bis 30. April 2020 gegolten hat, für gesetzwidrig, und zwar aus folgenden Gründen: Der – in diesem Fall zuständige – Gesundheitsminister muss zum einen nachvollziehbar machen, auf Basis welcher Informationen er die Verordnungsentscheidung und die gesetzlich vorgegebene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und den grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen getroffen hat. Aus dem Verordnungsakt ist aber nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche Entwicklungen von COVID-19 den Gesundheitsminister bei seiner Entscheidung geleitet haben. Eine entsprechende Dokumentation ist jedoch ausschlaggebend dafür, dass der VfGH beurteilen kann, ob die Verordnung den gesetzlichen Vorgaben entspricht.

Die angefochtene Regelung bedeutete zum anderen eine Ungleichbehandlung von Geschäften mit mehr als 400 m2 gegenüber vergleichbaren Betriebsstätten, insbesondere von Bau- und Gartenmärkten. Diese waren ohne Rücksicht auf die Größe ihres Kundenbereiches vom Betretungsverbot ausgenommen. Eine sachliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ist für den VfGH nicht erkennbar.

Wörtlich heißt es in der Entscheidung des VfGH:

Auch wenn es grundsätzlich, worauf der BMSGPK [Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz] in seiner Äußerung hinweist, im Zuge einer schrittweisen Lockerung angesichts einer bestimmten Entwicklung der Verbreitung von COVID 19 mit § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz durchaus vereinbar sein mag, Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren über 400 m² beträgt, deswegen, anders als solche Betriebsstätten mit einem Kundenbereich unter 400 m², (noch) nicht vom Betretungsverbot auszunehmen, weil es auch auf das Verkehrsaufkommen durch Menschen ankommt, die derartige Betriebsstätten aufsuchen, so besteht doch keine sachliche Rechtfertigung dafür, diesen Aspekt für in dieser Hinsicht vergleichbare Betriebsstätten insbesondere von Bau- und Gartenmärkten außer Acht zu lassen und diese damit anders zu behandeln. […] Der Verfassungsgerichtshof vermag auch nicht zu erkennen, dass etwa Gartenmärkte für Verrichtungen des täglichen Lebens eine vergleichbare Bedeutung hätten, wie sie, worauf der BMSGPK verweist, die in § 2 Abs. 1 Z 9 der Verordnung genannten Bereiche des Verkaufs und der Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten haben. Schließlich sind auch keine Umstände ersichtlich, dass für die in § 2 Abs. 1 Z 22 der Verordnung genannten Bau- und Gartenmärkte allenfalls angeordnete Betretungsbeschränkungen zur Sicherstellung eines Abstandsgebotes, wie sie § 2 Abs. 6 der Verordnung vorsieht, in der Bevölkerung geradezu den gegenteiligen Effekt eines Kundenandranges auslösen würden.“

Da die Vorschrift mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft getreten ist, hatte sich der VfGH auf die Feststellung zu beschränken, dass diese Vorschrift gesetzwidrig war. Der VfGH sprach auch aus, dass die Vorschrift nicht mehr anzuwenden ist.

(V 411/2020)

Keine gesetzliche Grundlage für allgemeines Betretungsverbot von öffentlichen Orten

§ 2 COVID-19-Maßnahmengesetz sieht vor, dass beim Auftreten von COVID-19 durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden kann, „soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist“. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.

Auf Grund des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz erging die Verordnung des Bundesministers für Gesundheit, Soziales, Pflege und Konsumentenschutz BGBl. II 98/2020, mit der das Betreten öffentlicher Orte allgemein für verboten erklärt wurde (§ 1). § 2 dieser Verordnung enthielt mehrere Ausnahmen von diesem Verbot: etwa das Betreten öffentlicher Orte im Freien alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, oder mit Haustieren, wobei zu anderen Personen ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten war (Z 5).

Gegen die Verordnung hatte ein Universitätsassistent einer Wiener Universität mit Wohnsitz in Niederösterreich einen (Individual-)Antrag nach Art. 139 B-VG eingebracht. Die Verordnung trat mit 30. April 2020 außer Kraft. Auch in diesem Fall ging der VfGH von der Zulässigkeit des Antrags aus.

Gegen § 2 COVID-19-Maßnahmengesetzes bestehen, so der VfGH, keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil er eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für allfällige – durch Verordnung zu erlassende – Betretungsverbote bietet und damit dem verfassungsrechtlichen Legalitätsprinzip entspricht. Die Entscheidung, ob bzw. welche Maßnahmen per Verordnung gegen COVID-19 getroffen werden, überträgt das Gesetz zwar an die zuständigen Behörden. Bei dieser Entscheidung sind die Behörden jedoch an die Grundrechte gebunden, insbesondere an das Recht auf persönliche Freizügigkeit. Einschränkungen dieses Rechtes sind nur dann zulässig, wenn sie einem legitimen öffentlichen Interesse (wie dem Gesundheitsschutz) dienen und verhältnismäßig sind.

Der VfGH hat entschieden, dass die Bestimmungen der §§ 1, 2, 4 und 6 der Verordnung gesetzwidrig waren, weil die Grenzen überschritten wurden, die dem zuständigen Bundesminister durch § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz gesetzt sind. Mit der Verordnung wurde nicht bloß das Betreten bestimmter, eingeschränkter Orte untersagt. Die Ausnahmen in § 2 der Verordnung ändern nichts daran, dass § 1 der Verordnung „der Sache nach als Grundsatz von einem allgemeinen Augangsverbot ausgeht.“ Ein derart umfassendes Verbot ist aber vom COVID-19-Maßnahmengesetz nicht gedeckt. Dieses Gesetz bietet keine Grundlage dafür, eine Verpflichtung zu schaffen, an einem bestimmten Ort, insbesondere in der eigenen Wohnung, zu bleiben.

In der Entscheidung des VfGH heißt es dazu:

„Der Verordnungsgeber kann dabei die Orte, deren Betreten er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 untersagt, konkret oder abstrakt umschreiben, er kann für Außenstehende auch, wie die Erläuterungen deutlich machen, das Betreten regional begrenzter Gebiete wie Ortsgebiete oder Gemeinden untersagen; es ist ihm aber verwehrt, durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art. 8 EMRK) ein – wenn auch entsprechend der räumlichen Ausdehnung der Verordnung gemäß § 2 Z 2 oder 3 COVID‑19-Maßnahmen­gesetz regional begrenztes – Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen. Damit ist die gesetzliche Ermächtigung des § 2 COVID‑19-Maßnahmengesetz dahingehend begrenzt, dass das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden darf, nicht aber, dass Menschen auf Grundlage des § 2 COVID‑19-Maßnahmengesetz dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben.“

Und weiter:

„Zwar hat der Verordnungsgeber in § 2 COVID‑19-Maßnahmenverordnung‑98 einzelne Ausnahmen von diesem allgemeinen Betretungsverbot vorgesehen. Diese, insbesondere auch die zwar nicht auf einen bestimmten Zweck abstellende, aber dennoch auf bestimmte Konstellationen begrenzte Ausnahme des § 2 Z 5 COVID‑19-Maßnahmen­verordnung‑98, ändern nichts daran, dass § 1 der Verordnung ein allgemeines Betretungsverbot öffentlicher Orte vorsieht und damit – entgegen der gesetzlichen Vorgabe des § 2 COVID‑19-Maßnahmengesetz – nicht das Betreten bestimmter, eingeschränkter Orte untersagt, sondern durch ein Betretungsverbot für alle öffentlichen Orte der Sache nach als Grundsatz von einem allgemeinen Ausgangsverbot ausgeht. Wenn § 2 COVID-19-Maßnahmen­gesetz im Rahmen grundsätzlich bestehender Freizügigkeit aber nur Betretungsverbote für bestimmte Orte (mögen sie abstrakt, etwa durch ihren Verwendungszweck, oder örtlich umschrieben sein, siehe IA 396/A 27. GP, 11) vorsieht, dann ermächtigt das Gesetz gerade nicht zu einem allgemeinen gesetzlichen Verbot mit Erlaubnistatbeständen.

Damit ist nicht gesagt, dass bei Vorliegen besonderer Umstände unter entsprechenden zeitlichen, persönlichen und sachlichen Einschränkungen nicht auch ein Ausgangsverbot gerechtfertigt sein kann, wenn sich eine solche Maßnahme angesichts ihrer besonderen Eingriffsintensität als verhältnismäßig erweisen kann. Jedenfalls bedarf eine dermaßen weitreichende, weil dieses Recht im Grundsatz aufhebende Einschränkung der Freizügigkeit aber einer konkreten und entsprechend näher bestimmten Grundlage im Gesetz.

Da die angefochtenen Bestimmungen bereits mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft getreten sind, hat der VfGH ausgesprochen, dass diese Bestimmungen gesetzwidrig waren. Er hat auch ausgesprochen, dass diese Bestimmungen (etwa in einem laufenden Verwaltungsstrafverfahren) nicht mehr anzuwenden sind.

(V 363/2020)